Braunschweig | 16.02.2021 | Dokumentation einer Stellungnahme der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Niedersachsen zur Einstellung des Verfahrens wegen des Verdachts der „Volksverhetzung“ gegen den Braunschweiger Neonazi Martin Kiese.
Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hat das Verfahren wegen des Verdachts der Volksverhetzung gegen den stellvertretenden Kreisvorsitzenden der rechtsextremen Partei »Die Rechte«, Martin Kiese, eingestellt.
Die Argumentation der Staatsanwaltschaft, dass „Die Worte ‚Jude’ und ‚Judenpresse’“ „objektiv keine Beleidigungen – ebenso wenig wie ‚Christ’ oder ‚Moslem‘“ seien, zeugt von einer Unwissenheit der Geschichte des Antisemitismus und einer Ignoranz gegenüber der Perspektive der Betroffenen. Führende Antisemitismusforscher*innen wie Julia Bernstein haben gerade in jüngerer Vergangenheit verstärkt darauf hingewiesen, dass die Bezeichnung „Jude“ oder das Judentum im antisemitischen Narrativ per se für alles Negative steht. In diesem Kontext ist die Markierung auch nichtjüdischer Menschen als jüdisch – insbesondere, wenn wie im vorliegenden Fall von „Judenpack“ gesprochen wird – eindeutig als antisemitische Diffamierung zu benennen. Sie steht untrennbar im Zusammenhang mit der jahrhundertealten Diskriminierungsgeschichte von Juden und Jüdinnen.
Äußerungen knüpfen an nationalsozialistische Parolen an
Insbesondere im Nationalsozialismus wurde die demokratische Presse mit dem Judentum identifiziert. Beide galten den Nationalsozialisten als miteinander verwachsene Feindbilder, die es zu vernichten galt. Das Martin Kiese als ehemaliger Ortsvorsitzender der heute verbotenen FAP mit seinen Aussagen diese nationalsozialistische Gleichsetzung reproduziert, ist offensichtlich.
Besonders deutlich wird der antisemitische Vernichtungswille mit der im Nachtrag von Kiese verwendeten Parole „Feuer und Benzin für euch“. Menschen als „Juden“ zu betiteln und zu fordern, sie mit „Feuer und Benzin“ zu bekämpfen, bedeutet nichts anderes als die Forderung der antijüdischen Pogrome des Mittelalters oder die Brandschatzungen und Morde der Reichspogromnacht wieder aufleben zu lassen. Dass die Staatsanwaltschaft Braunschweig diesen Zusammenhang ignoriert, ist besonders zynisch, da der Brandanschlag auf das Gemeindehaus der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern vom 13. Februar 1970, bei dem sieben Menschen ermordet wurden, sich erst vor wenigen Tagen jährte.
Tradition der Bagatellisierung von Antisemitismus in Niedersachsen
Die Einstellung des Verfahrens ist ein schockierendes Signal an die Mitglieder der jüdischen Gemeinde. Ein Signal, das leider in Niedersachsen auf eine Tradition zurückblicken kann. So wurden bereits im Herbst 2020 in Hannover Ermittlungen gegen die Partei die Rechte eingestellt, nachdem diese auf Plakaten die Parole „Israel ist unser Unglück“ – eine Abwandlung der alten Parole „die Juden sind unser Unglück“ – propagiert hatte. Gegen einen Arzt aus Hannover, der in seinem Buch und auf seinem Blog massiv gegen Jüdinnen und Juden gehetzt hat, wurde ebenfalls im letzten Jahr, entgegen der Forderungen von Betroffenen, lediglich ein Strafbefehl erlassen. Es kam zu keinem Prozess, der den Antisemitismus öffentlich skandalisiert hätte. So werden Unsicherheiten in der jüdischen Bevölkerung weiterwachsen und das Gefühl, durch staatliche Behörden nicht vor antisemitischen Agitatoren geschützt zu sein, wird sich verschärfen.
Letztendlich bedeutet die Einstellung des Verfahrens eine weitere Bagatellisierung von Antisemitismus von Seiten der Justiz. Die Grenzen des Sagbaren werden so immer weiter verschoben. Antisemitismus bedeutet für die Betroffenen auch in verbaler Form immer Gewalt. Durch die nicht-Ahndung derartiger Parolen steigt die Bereitschaft von Antisemit*innen, den Worten auch physische Taten folgen zu lassen. Eine staatliche Stelle muss alles versuchen, dies zu verhindern und Jüdinnen und Juden, so wie die Vertreter der demokratischen Öffentlichkeit zu schützen – und nicht diejenigen, die deren Vernichtung fordern.