Prozeßauftakt 5 Jahre nach Ausschreitungen bei AfD-Demo in Chemnitz: angeklagter Neonazi aus Braunschweig erscheint nicht vor Gericht
Chemnitz | 11.12.2023 | Vor dem Landgericht Chemnitz begann am Montag der Prozess gegen mehrere Neonazis, die bei einer Versammlung der AfD und anderer rechter Gruppierungen am 1. September 2018 an Ausschreitungen beteiligt und regelrecht Jagd auf Gegendemonstrant*innen gemacht haben sollen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen Landfriedensbruch in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in elf tateinheitlichen Fällen vor. Angeklagt ist auch ein bekannter Neonazi und Kampfsportler aus Braunschweig. Er erschien allerdings nicht vor Gericht.
Angeklagter sitzt in der Psychatrie
Bei dem Angeklagten handelt es sich laut der Tageszeitung „Die Welt“ um Pierre B., der sich wegen einer akuten psychischen Krise in der geschlossenen Psychiatrie befinde. Sein Verfahren wurde deshalb abgetrennt und wird zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden. Gegen ihn läuft zudem noch ein weiteres Verfahren wegen der Ausschreitungen am 1. September 2018 in Chemnitz, in dem es um „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ geht. Laut Anklage der Generalstaatsanwaltschaft Dresden gelte er aufgrund einer Impulskontrollstörung als schwerbehindert und leide an einer Persönlichkeitsstörung.
Gewalttäter mit „positiver Sozialprognose“
Der Kampfsportler Pierre B. ist seit vielen Jahren in der Neonazi-Szene in Braunschweig aktiv und gilt als äußerst gewalttätig. Trotz dutzender Straf- und Ermittlungsverfahren und kam Pierre B. vor Gericht mehrmals mit einer Bewährungsstrafe davon. Auch die Bewährungen wurden trotz erneuter Gewalttaten nicht widerrufen:
- Im Februar 2016 griff er zwei Schüler der Neuen Oberschule und brach einem der beiden den Kiefer. Außerdem attackierte er einen Mitarbeiter des Jugendverbandes Die Falken. Das Amtsgericht verurteilte ihn im Dezember 2016 dafür und für weitere Taten wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, vorsätzliche Körperverletzung in zwei Fällen, Beleidigung, Beleidigung tateinheitlich begangen mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und versuchter Körperverletzung zu einer Haftstrafe von 2 Jahren, setzte diese aber zur Bewährung aus
- Bereits ein halbes Jahr nach seiner Verurteilung, am 7.6.2017, beging er erneut eine gefährliche Körperverletzung. Das Amtsgericht verurteilte ihn zu einer Haftstrafe von 9 Monaten und setzte auch diese wieder zur Bewährung aus.
- Am 27.10.2017 verurteilte ihn das Amtsgericht Erfurt wegen einer Körperverletzung in Tatmehrheit mit versuchte gefährlichen Körperverletzung am 1.5.2016 zu einer Geldstrafe von 110 Tagessätzen
Zuletzt bescheinigte ihm das Landgericht Braunschweig in einer Berufungsverhandlung im Januar 2018 eine „positive Sozialprognose“ und bestätigte die Aussetzung einer Haftstrafe auf Bewährung. Das Landgericht wollte ihm eine „letzte Chance“ einräumen, auch weil er sich bereiterklärt hätte, ein Konfliktmanagementtraining zu absolvieren und behauptete, sein Verhalten ändern zu wollen und er nur noch „privat“ in der rechten Szene verkehre.
Eine offensichtlich falsche Einschätzung des Gerichtes: bis heute ist Pierre B. aktiv in der Neonazi-Szene, nimmt regelmäßig an extrem rechten Aktivitäten und Versammlungen teil und wollte sogar als Oberbürgermeisterkandidat für die Neonazi-Partei „Die Rechte“ antreten.
Im September 2019 stand Pierre B. erneut vor Gericht: Im August 2018 wurde in Cramme (Landkreis Wolfenbüttel) einem Jugendlichen der Kiefer gebrochen. Der Geschädigte und weitere Jugendliche wollte Pierre B. später auf Fotos im Internet als Täter wiedererkannt haben. Doch es gab Zweifel, dass Pierre B. der Täter war, auch weil die Polizei laut dem Nebenklagevertreter vor Ort versäumt hatte Beweise zu sichern und Personalien möglicher weiterer Zeugen und des Täters festzustellen. Das Gericht sprach Pierre B. deshalb aus Mangel an Beweisen frei.
Im Herbst 2019 begann eine Serie von Bedrohungen gegen den Autor dieses Artikels, Aufkleber wurden an die Haustür geklebt, die Tür mit Ketchup beschmiert und Morddrohungen geschmiert. Nachdem die Polizei bei einer Farbattacke auf die Haustür den Täter gefilmt hatte, klagte die Staatsanwaltschaft Braunschweig Pierre B. an. Das zuständige Gericht stellte das Verfahren allerdings ein. Erst ein 2022 mit Hilfe meines Anwaltes erwirktes gerichtliches Annäherungsverbot nach dem Gewaltschutzgesetz gegen Pierre B. sorgte zumindest für einige Zeit für Entspannung.
Aus seinem Hang zu Gewalt macht Pierre B. unterdessen keinen Hehl: dutzende Videos im Netz zeigen ihm beim Kampfsporttraining, teils unterlegt mit Rechtsrockmusik. Dort ist zu sehen, wie er auch gezielt Tritte und Schläge auf den Kopf und Rumpf einer bereits am Boden liegende Person trainiert und den Einsatz von Schlagstöcken oder Messern übt. Dass es dabei nicht um eine sportliche Betätigung geht, sondern um Training für den politischen Straßenkampf und gewaltsame Auseinandersetzungen wird in den Videos und anderen Veröffentlichungen in den Sozialen Medien mehr als deutlich. Dort werden immer wieder Parolen, wie „Kampfsport gegen Links“ oder „Kampfsport gegen Überfremdung“ propagiert.
Ein Angeklagter auf der Flucht
Pierre B. ist nicht der Einzige, der am Montag nicht vor dem Landgericht Chemnitz erschien: Der ebenfalls angeklagte bundesweit bekannte Neonazi Steven F. aus Dortmund ist bereits seit November untergetaucht, als er eine Haftstrafe antreten sollte. Gegen zwei weitere Personen wurden das Verfahren zuvor schon eingestellt. Ein in Bulgarien gemeldeter Angeklagter konnte nicht ausfindig gemacht werden, bei einem anderen wurde das Verfahren wegen bereits erfolgter Verurteilungen in anderen Sachen eingestellt.
Weitere Angeklagte aus der Region
Neben Pierre B. sind noch weitere Neonazis aus der Region zwischen Harz und Heide angeklagt: Mark B. stammt aus Goslar und Timo B. bewegte sich zeitweise im Kreis der AfD-Jugendorganisation „Jungen Alternative Niedersachsen“ und gehörte zusammen mit Pierre B. und Lasse R. zu den Unterzeichnern der Selbstauflösungserklärung der neonazistischen „Kampf- und Sportgemeinschaft Adrenalin Braunschweig“ (ABS). Er trat aber auch mit Abzeichen der Neonazi-Partei „III. Weg“ in Erscheinung.
Nach der Festnahme des Mörders des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke postet der „abs_timo“: „Grüße an den Bruder in Haft“ und „Es wird geschehen, der Tag ist nicht mehr fern, da werden all‘ die hohen Herren gehangen an die Latern“. Auf dem Account von „abs_timo fanden sich nicht nur Hinweise für die enge Verbundenheit mit der Eisenacher Neonazi-Truppe »Knockout51«, die vom Generalbundesanwalt nicht nur als kriminelle, sondern sogar als terroristische Vereinigung angesehen wird, sondern auch eine Solidaritätsbekundung mit dem Salafisten Sven Lau. Ganz unverhohlen äussert „tabs_timo“ auf die Befürchtung, dass die braunschweiger Neonazis die „nächste Eskalationsstufe einleiten“ würden und auch ein Mord nicht unwahrscheinlich sei: „Jawoll! Adrenalin BS räumt auf“. Zuletzt beteiligte sich Timo B. an einer Kundgebung der Partei »Die Rechte« am 1.5.2019 in Braunschweig – danach trat er nicht mehr öffentlich in Erscheinung.
Nicht in diesem Verfahren mit angeklagt, aber mehrmals als Teil der Gruppe von Neonazis in der Anklage der Generalstaatsanwaltschaft Dresden erwähnt, ist noch ein weiterer Neonazi aus Braunschweig: Lasse R. Zusammen mit Timo B. und Pierre B. bildete er den Kern der neonazistischen »Kampf- und Sportgemeinschaft Adrenalin Braunschweig«. Gegen ihn und weitere Neonazis sind noch zwei weitere, bisher nicht terminierte Gerichtsverfahren vor dem Landgericht anhängig.
Jagdszenen in Chemnitz
Bei den Ausschreitungen in Chemnitz am 1. September 2018 mischten die Neonazis aus Braunschweig eifrig mit: Der Rechercheblog recherche38.info wertete damals dutzende Foto- und Fernsehberichte aus, auf denen zu sehen war, wie vor allem Pierre B. und Lasse R. „mit stets vorneweg mit aggressiven Posen und aufputschenden Parolen, die Stimmung gegen die Polizei anheizen … Ganz gezielt wurden in Chemnitz Journalist*innen, Fotograf*innen und Kameraleute bedrängt, geschubst und attackiert. Auch da fielen die Neonazis aus Braunschweig besonders auf …“
Recherche38 vermutete damals auch, dass die Neonazis auch an den Attacken gegen Gegendemonstrant*innen im Nachgang der Demonstration beteiligt waren, die nun vor Gericht verhandelt werden:
Möglicherweise waren die Neonazis aus Braunschweig noch an weiteren Angriffen beteiligt. So ist in der »Frankfurter Sonntags Zeitung« ein Bericht über einen Angriff von Neonazis auf Mitglieder der SPD aus Hessen, die am 1.9.2018 an den Gegenprotesten teilgenommen hatten. Dort schildert u.a. Karin Dettmering, dass ein Angreifer den ‚Schaft ihrer Fahne über dem Knie zerbrochen, sie aber nicht körperlich angegriffen‘ habe: ‚Dettmering erinnerte sich, dass der Angreifer mehreren Frauen zugerufen habe: ‘Ihr habt Glück, dass ihr Fotzen seid, dass wir euch nicht behindert schlagen.‘ – Diese Wortwahl lässt aufhorchen, da Lasse RXXXX genau diese Drohungen immer wieder verwendet. Dazu passt, dass Lasss RXXX bei instagram einen Screenshot eines twitter-Tweets des SPD-Politikers Sören Bartol postete, der schrieb: ‚Meine Gruppe aus Marburg wurde gerade auf dem Weg zum Bus von Nazis überfallen.” Lasse RXXX kommentiert das mit ‚Jeder kriegt was er verdient.‘
Artikel von recherche38.info „“Deutsche die Messerstich verteilen”: Gewalttätige Neonazis aus Braunschweig mischten in Chemnitz mit (abrufbar im Archiv von archive.lorg)
In der Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft Dresden gegen die jetzt vor dem Landgericht stehenden Neonazis wird auch genau diese Szene benannt und eine Zeugin aufgeführt, die Lasse R. hier wiedererkannt haben will.
Laut Anklageschrift riefen die Neonazis bei ihren Angriffen auch „Adolf Hitler Hooligans“ – Die Neonazis von »Adrenalin Braunschweig« bezeichneten sich nicht nur selbst als „Adolf Hitler Hooligans“, sondern druckten sogar T-Shirts mit einem Emblem, auf dem „Adrenalin Braunschweig Adolf H. Hooligans“ stand.
Laut Anklageschrift riefen die Neonazis bei ihren Angriffen auch „Adolf Hitler Hooligans“ – Die Neonazis von »Adrenalin Braunschweig« bezeichneten sich nicht nur selbst als „Adolf Hitler Hooligans“, sondern druckten sogar T-Shirts mit einem Emblem, auf dem „Adrenalin Braunschweig Adolf H. Hooligans“ stand.
„Der Rechtsstaat hat die Betroffenen im Stich gelassen“
Starke Kritik an den Ermittlungen der Polizei und der 5-jährigen Verfahrensdauer bis zum Beginn des 1. Prozesses, übten Nebenklagevertreter*innen und der Bundesverband der Betroffenenberatungsstellen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V. in einer Pressemitteilung: „Die sächsische Justiz hat die Betroffenen rechter Gewalt zum wiederholten Mal im Stich gelassen“, resümiert Nebenklagevertreterin Dr. Kati Lang aus Dresden. „Dass auch aufgrund der Trägheit von Strafverfolgungsbehörden und Gerichten in Sachsen schlussendlich keine wirkungsvollen Verfahren mehr stattfinden, ist inzwischen eine traurige Normalität.“
„Die katastrophale juristische Aufarbeitung der Welle rassistischer und rechter Gewalt im September 2018 in Chemnitz entmutigt die Angegriffenen und stärkt militante Neonazinetzwerke“, betont der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG e.V.). „Der Prozess am Landgericht Chemnitz ist von besonderer bundesweiter Bedeutung: Denn die Verharmlosung des offensichtlichen Schulterschlusses militanter Neonazis mit der rechtsextremen AfD und der Neonazi-Partei Freie Sachsen am 1. September 2018 hatte schon fatale Konsequenzen – es war der Ausgangspunkt für den rechtsterroristischen Mord an Walter Lübcke und die Anschlagspläne der rechtsterroristischen Gruppe Revolution Chemnitz.“