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Aus dem Archiv: Offener Brief an die Braunschweiger Zeitung zum 70. Jahrestag (2014) der Bombardierung Braunschweigs

Und als von tausend Jahren nur elf vergangen waren im letzten Jahr vom Krieg, da lag die Welt in Scherben, und Deutschland lag im Sterben und schrie noch Heil und Sieg.

Quelle: Stadtarchiv Braunschweig, twitter.com/Stadt_BS/status/1713862841592070629/photo/3

Liebe Redaktion der Braunschweiger Zeitung,

als regelmäßiger Leser ihrer Zeitung und als Sprecher des Braunschweiger Bündnis gegen Rechts möchte ich ihrer Aufforderung an die Leser nachkommen, zum Thema der Bombardierung der Stadt Braunschweig mitzu­dis­kutieren.

Als die „schmerzlichste Stunde dieser Stadt“ bezeichnete Henning Noske in der Braunschweiger Zeitung vom 9. Oktober 2014 den Bombenhagel im Oktober 1944. Ohne Zweifel, die Bombardierungen, die Verletzten, die Toten und die Zerstörungen sind ein schreckliches Ereignis in der Geschichte dieser Stadt. Ein Ereignis welches deutlich machen sollte, welche Grausamkeiten Kriege für die Zivilbevölkerung immer bedeuten und welche Schrecken insbesondere dieser von Deutschland angezettelte Krieg nicht nur in die von der Wehrmacht überfallenen Ländern brachte, sondern schließlich auch für die deutsche Bevölkerung nach sich zog.

Doch war das wirklich die „schmerzlichste Stunde“ für alle BewohnerInnen dieser Stadt? Manche hatten schon wahrlich schmerzlichere Stunden hinter sich. Sie hofften – so sie überhaupt noch lebten – in diesen Stunden der Bombardierung vor allem auf eins: dass die Alliierten endlich die Wehrmacht besiegen, dass Hitler endlich gestürzt und sie bald vom Terrorregime der Nazis befreit werden würden. Auch sie hatten in diesen Stunden sicher Angst um ihr Leben, doch die Bomben bedeuteten auch gleichzeitig ein kleines Stück Hoffnung im Dunkeln: Hoffnung, dass der Krieg bald vorbei ist, Hoffnung, dass bald bessere Zeiten anbrechen.

Für viele SozialdemokratInnen, GewerkschafterInnen, SozialistInnen, Kom­munist­Innen, SyndikalistInnen, AnarchistInnen, aber auch für demokratische PolitikerInnen, für die Braun­schweigerinnen und Braunschweiger jüdischen Glaubens und für alle Anderen, die von den Nazis verfolgt, terrorisiert und ermordet wurden, waren die „schmerzlichsten Stunden“, sicher die in den Folterkellern der Gestapo, in den Zuchthäusern, in Konzentrations-, Arbeits- und Vernichtungslagern.

Und eins sollte auch nicht vergessen werden: Ein großer Teil der Todesopfer der Bombardierungen waren ausländische ZwangsarbeiterInnen, die die Nazis aus den überfallenen und besetzten Ländern nach Deutschland verschleppt hatten. Sie durften, anders als die deutsche Bevölkerung, keinen Schutz in den Bombenkellern und Luftschutzbunkern suchen.

Wer erzählt deren Geschichte? Wer erzählt die Geschichte der Braunschweiger­innen und Braunschweiger, die von den Nazis erniedrigt, gefoltert und er­mordet wurden? Viele haben die Lager nicht überlebt und können selbst nicht mehr Zeugnis ablegen.

Was erfährt man aber, wenn man heute diejenige befragt, die die Bombardierung der Stadt noch miterlebt haben? Wird man von ihnen erfahren, wie viele noch „Heil und Sieg“ schrien, als Deutschland schon in Scherben lag? Wird man erfahren, wie viele „Ja“ auf die Frage riefen: „Wollt ihr den totalen Krieg“? Wird man erfahren, wie viele Braunschweigerinnen und Braunschweiger begeistert Hitler zujubelten, wie viele gleichgültig waren oder beschämt wegsahen, als die Nazis ihre jüdischen Nachbarn abholten? Wird man erfahren, welche Bedeutung Braunschweig für die Rüstungsproduktion hatte? Wird man erfahren, an welchen Kriegsverbrechen auch Braunschweiger Einheiten der Wehrmacht, wie beispielsweise die „Löwendivision“, beteiligt waren? Wird man erfahren, welche englische Städte die Luftflotte II, die ihr Hauptquartier in Braunschweig hatte, bombardierte?

Man wird sicher viel von schrecklichen Erlebnissen lesen, man wird vom Verlust geliebter Angehöriger und der Zerstörung der Wohnhäuser, von der Angst und dem Schrecken, erfahren. Doch Angst und Schrecken kamen nicht einfach so über die Stadt. Sie waren Ergebnis der Zustimmung weiter Teile der Bevölkerung zur Politik der Nazis, sie waren Ergebnis des Terrors und des Vernichtungskrieg der Wehrmacht in ganz Europa und darüber hinaus.

Wie schrecklich auch die Bombardierungen gewesen sein mögen, wie berechtigt auch das individuelle Trauern um verlorene Angehörige, um tote Verwandte um umgekommene Großeltern oder Urgroßeltern auch ist: Den Krieg hat Deutschland angefangen und viele Braunschweigerinnen und Braunschweiger haben weggesehen, geschwiegen oder begeistert mitgemacht, als die Nazis an die Macht kamen.

Ich würde gerne in der Braunschweiger Zeitung lesen, wie sich die Menschen im baskischen Guernica gefühlt haben, als die Legion Condor 1937, noch vor Beginn des II. Weltkrieges, ihr Städtchen bombardierte. Wie sich die Menschen in Großbritannien fühlten, als ihre Städte von der deutschen Luftwaffe angegriffen wurden. Ich möchte erfahren, wie Braunschweig und seine Menschen, den Aufstieg der Nazis erlebt haben, wer die NSDAP unterstützt hat, wer von Rüstung und Krieg profitierte. Ich möchte erfahren, an welche Kriegsverbrechen Braunschweiger Wehrmachtseinheiten beteiligt waren, wie es den Menschen in den Arbeits- und Vernichtungslagern erging. Denn all das mündete schließlich in der Bombardierung der Stadt und ihrer Zerstörung.

Wie schon in anderen Städten, z.B. in Dresden oder in Magdeburg, springen nun auch in Braunschweig Neonazis auf den herrschenden Gedenkdiskurs auf und versuchen das Gedenken an die Bombardierungen der Stadt in ihrem Sinne umzudeuten. So haben Braunschweiger Neonazis aktuell eine Kampagne unter dem Motto „Ge-H-denken“ gestartet, in der sie mit Aufklebern, Flugblättern kleineren Aktionen, sowie mit einer facebook-Seite, ihren verdeckten Geschichtsrevisionismus insbesondere an junge Menschen bringen wollen. Die Nazis können dabei durchaus darauf hoffen, dass sie mit ihren Thesen auf eine gewisse Zustimmung in manchen Kreisen der Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt stoßen: Sie stellen die Schrecken für die deutsche Zivilbevölkerung in den Vordergrund und bezichtigen die Alliierten Kriegsverbrechen begangen zu haben. Die Bombardements seien bloßer „Terror“ gegen die Zivilbevölkerung gewesen und hätten sonst keine militärische Bedeutung gehabt. Da sie es vermeiden sich dabei offen als Neonazis erkennen zu geben, ist es oft nicht ganz so einfach die extrem rechte Ideologie hinter ihren Forderungen zu erkennen und sie zu enttarnen. Wie viele der Leserinnen und Leser der Braunschweiger Zeitung würden wohl die Frage, ob die Bombardierung der Stadt ein großes „Kriegsverbrechen“ war, genauso beantworten wie die Neonazis? Klar ist, welches Ziel die Neonazis damit verfolgen: Sie docken an den öffentlichen Gedenkdiskus der Bombardierung als die „schmerzlichste Stunde dieser Stadt“ an und machen daraus eine Anklage gegen die Alliierten, die sie noch immer als Besatzer“ bezeichnen.

Indem die „deutschen Opfer“ des Krieges in den Mittelpunkt gestellt werden, sollen die Verbrechen der Nazis, der Wehrmacht und die Ursachen des Krieges ausgeblendet werden. Damit dient ihr vordergründiges „Ge-H-denken“ an die zivilen Opfer der Bombardierungen der Verharmlosung und Relativierung der Verbrechen des deutschen Faschismus durch die Hintertür. Dieser geschickten Demagogie sollten wir deutlich entgegentreten. Indem wir nicht die Zerstörung der Stadt und die Schrecken für die Bevölkerung in den Vordergrund stellen, sondern ganz deutlich, was dazu geführt hat: Rassenideologie und Antisemitismus, Nationalismus, Sozialchauvinismus und Profitstreben, antidemokratische Einstellungen und Antikommunismus und Militarismus imperialistisches Großmachtstreben.

Immer wieder gab es nach 1945 auch in Braunschweig Diskussionen und Auseinandersetzungen um die Formen des Gedenkens. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich vor 20 Jahren am „Volkstrauertag“ gemeinsam mit anderen AntifaschistInnen am Schilldenkmal stand und fassungslos war, wie dort Vertreter der Stadt gemeinsam mit militaristischen Verbänden, wie z.B. der Hilfsgemeinschaft ehemaliger SS-Angehöriger, Kränze an einem Denkmal ablegten, das mit dem „Eisernen Kreuz“, dem Symbol des deutschen Militarismus, und der Inschrift „Sie fochten und fielen für Deutschlands Freiheit“ versehen ist. Seit den Auseinandersetzungen und den darauf folgenden Diskussionen hat sich in dieser Stadt einiges verändert. Heute erinnert am Schilldenkmal eine Gedenkstätte an das Leiden und Sterben der Menschen im dortigen Arbeitslager und die unsägliche Veranstaltung zum „Volkstrauertag“ dort sind passé. Doch es bleibt weiterhin die Frage: Wie gedenken wir? Wem gedenken wir? Gerade im „Land der Täter“ müssen wir uns dieser Frage auch heute immer wieder neu stellen. Und vor allem: Wie vermitteln wir jungen Menschen, für die das alles weit weg, bloß noch abstrakte Geschichte ist, wie wichtig es ist für unsere heutige Gesellschaft und für zukünftige Gesellschaften aus den Schrecken des Faschismus die richtigen Schlüsse und Konsequenzen zu ziehen. Denn: „Die Zukunft hat eine lange Vergangenheit!“

Braunschweig, den 10. Oktober 2014

David Janzen, Sprecher des Bündnis gegen Rechts

Und als von tausend Jahren
nur elf vergangen waren
im letzten Jahr vom Krieg,

da lag die Welt in Scherben,
und Deutschland lag im Sterben
und schrie noch Heil und Sieg.

Der Mensch war sehr zerbrochen,
und nicht nur seine Knochen.
Der Mensch zerbricht auch schnell.

Und die von den Faschisten
sich nicht zerbrechen ließen,
die waren nicht mehr viel.

Gefoltert und geschunden,
geknebelt und gebunden,
und gingen aufrecht doch.

Und auch in den Fabriken,
in Lagern und Verstecken
lebten, kämpften sie noch.

Die Masken, die sie tarnten,
die Stimmen, die sie warnten,
die wusste nur der Wind.

Und Horcher gab es viele.
Und Kinder spielten Spiele,
die sehr gefährlich sind.

Und in den Bombennächten
in Höhlen und in Schächten
teilten sie ihre Not.

Und teilten ihre Freuden
und teilten ihre Leiden
und auch den Bissen Brot.

Sie hatten eine Lehre
und hatten auch Gewehre
und hatten ihre List.

In mehr als tausend Jahren,
da hatten sie erfahren,
wann ihre Stunde ist.

Und wie sie kämpften, litten
und lachten, liebten, stritten
in Solidarität,
das wird man dann noch lesen,
wenn das, was sonst gewesen,
ein Mensch nicht mehr versteht.

Franz-Josef Degenhardt, Zündschnüre-Song

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