Staatsanwaltschaft stellt Freibrief für antisemitische Beleidigungen aus – Journalist wehrt sich mit Strafanzeige gegen Martin Kiese
Braunschweig | 19.03.2021 | Dokumentation einer Stellungnahme der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Niedersachsen zur Einreichung einer Strafanzeige gegen Martin Kiese , sowie zur Einreichung einer Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens gegen Kiese durch einen betroffenen Journalisten:
Am 15. November 2020 und am 19. Dezember 2020 hat der Kreisvorsitzende der rechtsextremen Partei »Die Rechte«, Martin Kiese, bei einer Demonstration Journalist*innen antisemitisch, homo- und transfeindlich beleidigt. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hat jedoch ein daraufhin eingeleitetes Verfahren wegen des Verdachts der Volksverhetzung gegen Kiese eingestellt. Gegen diese Entscheidung äußerten Vertreter*innen der Jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Akteur*innen aus der Zivilgesellschaft Kritik. Einer der von den verbalen Ausfällen betroffenen Journalisten hat nun Strafanzeige und Strafantrag gestellt, so wie Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens eingereicht.
Die Staatsanwaltschaft Braunschweig räumte zwar ein, dass es sich bei den Aussagen Kieses „objektiv um diverse Beleidigungen“ handelt, und ergänzte „allerdings fehlten auch insoweit die unabdingbaren Strafanträge“ der, von den Beleidigungen betroffenen Personen. Trotz dieser Kenntnisse und obwohl der betroffene Journalist unproblematisch über Twitter kontaktierbar war, haben die Strafverfolgungsbehörden ihn zu keinem Zeitpunkt über seine Rechte als Geschädigter – gerade in Hinblick auf die geäußerten Beleidigungen – informiert.
Rechtsanwältin Kati Lang, die den betroffenen Journalisten vertritt, erklärt dazu:
„Die Staatsanwaltschaft ist in der Pflicht, sowohl be- als auch entlastende Umstände zu ermitteln. Die Einstellung des Verfahrens, bevor die Strafantragsfrist abgelaufen war, und die Entkontextualisierung der eindeutig antisemitischen Äußerungen sind wenigstens mutlos und bilden alles andere als einen engagierten Rechtsstaat ab. Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Braunschweig, die Äußerungen als nicht volksverhetzend einzuordnen, lässt insbesondere die jüdischen Gemeinden und Gemeinschaften schutzlos zurück. Mein Mandant möchte nunmehr die Wiederaufnahme des Verfahrens erwirken.“
Inzwischen ist bekannt, dass Kiese seine am 15. November 2020 getätigten Hassreden am 19. Dezember 2020 noch einmal erweiterte. In einem Video, dass auf Twitter verbreitet wurde, ist Kiese unter anderen mit folgenden Aussagen zu hören: „Ihr miesen Leute aus Israel. Darauf scheiß ich auf Israel. Ich piss drauf. Mein Opa hat schon gekämpft. Scheiss Israel. Du Idiot. … gehört verprügelt weil er ein Jude war. (…) Du Homowichser, kommst aus Israel. (…) Ich schlage keine Kinder, ich schlage nur Leute aus Israel.“ Aus Sicht der Staatsanwaltschaft Braunschweig war der Tatbestand der Volksverhetzung mit all diesen Aussagen dennoch nicht erfüllt.
De Facto stellte die Staatsanwaltschaft Martin Kiese mit ihrer Einstellung des Verfahrens einen Freibrief aus, weiterzuhetzen. Es überrascht also nicht, dass dieser bereits am 20. Februar 2021 nachlegte. Bei einer Demonstration der Partei »Die Rechte« in Braunschweig wurde durch Teilnehmer in Richtung Gegendemonstrant*innen gerufen: „Das deutsche Volk will Euch in die Gaskammer packen“ und es wurden „Nie wieder Israel“ Sprechchöre skandiert. Martin Kiese rief: „Auf zur Synagoge“.
Diese Aussagen kommentiert Helge Regner von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Niedersachsen (RIAS) folgendermaßen:
„Bei der Verwendung des Wortes Israel handelt es sich um eine, insbesondere im rechtsextremen Spektrum weit verbreitete Umwegkommunikation, die als Sprachversteck fungiert, um Antisemitismus zu verbreiten. Im Fall von Martin Kiese steht ,Leute aus Israel’ zweifellos für ,Juden’“
Dies wird insbesondere durch die Ergänzungen „Mein Opa hat schon gekämpft“, und „… gehört verprügelt weil er ein Jude war“ deutlich. Der Bezug auf den „Kampf“ des „Opas“, stellt einen positiven Bezug auf den Nationalsozialismus und die Schoah dar. Dieses Streben spiegelt sich in seinem jahrzehntelangen Aktivismus innerhalb der extremen Rechten wieder.
Um Antisemitismus auch in seiner versteckten Form erkennen zu können, hat sich die Bundesregierung bereits im Jahr 2017 die Arbeitsdefinition der „International Holocaust Remembrance Alliance“ (IHRA) zu Eigen gemacht und empfiehlt sie auch zur Anwendung in den Behörden. In der Definition heißt es: „Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten.“
Da die verbalen Attacken sowohl am 15. November 2020 als auch 19. Dezember 2020 für Umstehende gut wahrnehmbar waren, waren sie geeignet die anderen Versammlungsteilnehmer*innen, die dem politischen Umfeld des Beschuldigten zuzurechnen sind, zum Hass gegen Juden und Jüdinnen und/oder gegen Homosexuelle aufzustacheln. Das gefährliche Potential dieser Hassrede nicht zu erkennen, führt letztlich zu manifesten Folgen für die, von antisemitischen Hass Betroffenen.
Die Antisemitismusbeauftragte des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden von Niedersachsen, Rebecca Seidler, unterstützt das weitere Vorgehen: „Es ist ein wichtiges und richtiges Zeichen, dass das Einstellungsverfahren der Staatsanwaltschaft Braunschweig jetzt deutlich kritisiert und neu aufgerollt wird. Es ist nicht hinnehmbar, dass Rechtsextreme antisemitische Äußerungen tätigen können ohne Konsequenz. Es ist jetzt notwendig, dass die Justiz mit allen juristischen Mitteln hier an einer Strafverfolgung arbeitet und keinen Diskussionsspielraum zulässt, denn Antisemitismus ist keine Meinung.“
RIAS Niedersachsen begrüßt ausdrücklich, dass Beschwerden gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Braunschweig eingelegt wurden. Antisemitismus darf nicht länger von behördlicher Seite entkontextualisiert und bagatellisiert werden. Es gilt, ihn in all seinen Formen zu erkennen, als solchen zu benennen und zu bekämpfen.
Die Recherche und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Niedersachsen ist ein Projekt der Amadeu Antonio Stiftung. Wir dokumentieren Fälle von Antisemitismus in Niedersachsen. Vorfälle können unter report-antisemitism.de oder an info@rias-niedersachsen.de gemeldet werden.